Das Buch in dem die Welt verschwand: Roman (German Edition) by Wolfram Fleischhauer
Autor:Wolfram Fleischhauer [Fleischhauer, Wolfram]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426414736
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2015-12-01T16:00:00+00:00
19.
Nicolai starrte durch das Fenster auf die gegenüberliegende Fassade. Der zweite Stock war hell erleuchtet. Die Grafen Wartensteig und Aschberg speisten noch immer zu Abend. Sie waren also persönlich gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und sich über den Schuldenstand des Gutes zu erkundigen, das sie geerbt hatten. Ihr Personal, das sie mitgebracht hatten, wartete im Vorzimmer auf. Für Nicolai war es ein Blick in eine fremde, ferne Welt. Die Welt der Mächtigen und Reichen. Dass nicht einmal Di Tassi mit ihnen speisen durfte, zeigte, über welchen Abgrund er gerade hinwegblickte. Die geringe Entfernung täuschte. Er hätte ebenso gut den Mond anschauen können. Aber der war schon schlafen gegangen.
Ein Kammermädchen Wartensteigs hatte sich Magdalenas angenommen. Bewachung wäre der bessere Ausdruck gewesen. Der Justizrat würde Magdalena so schnell nicht wieder ziehen lassen. Sie hatte immerhin zwei dieser Verschwörer gesehen. Das war sehr nützlich für den Rat. Nicolai hätte sich denken können, dass Di Tassi das Mädchen bei sich behalten würde, bis er in der Sache ein Stück weiter gekommen war. Ein Augenzeuge war zu wertvoll für ihn. Er würde sie mitnehmen … zum nächsten Hinterhalt. Und das bedeutete offenbar: Bayreuth.
Er beobachtete nervös das glänzende Treiben gegenüber. Er musste eine Entscheidung treffen. Doch zugleich hatte er den Eindruck, dass er gar keine Wahl mehr hatte. Er hatte keine Übung in den komplizierten Überlegungen des Herzens. Es reflektierte sich damit so ganz anders als mit dem Kopf. Er war daran gewöhnt, widersprüchliche Gedanken zu lösen, indem er sie einer höheren Wahrheit zuführte, von der aus gesehen der Widerspruch keiner mehr war. Doch die Widersprüche, die er jetzt in seinem Herzen spürte, führten zu keiner höheren Wahrheit – sondern zu einer tieferen. Sie betrafen nicht die Welt – sondern ihn. Und das bereitete ihm Unbehagen.
Hinzu kam, dass ihn das Verhör in mehrfacher Hinsicht verstört hatte. Di Tassis Art hatte ihn abgestoßen. Er war gefühlskalt und unberechenbar. Aber an Di Tassi mochte der gesammelte Schmutz kleben, der sich durch eine erfolgreiche Karriere in Fürstendiensten zwangsweise ansammelt: Immerhin war es doch vertrauter, bekannter Schmutz. Man roch den Gestank, und er war einem zwar unangenehm, aber eben doch vertraut, auch wenn man ihn verabscheute.
Magdalena hingegen war ihm ein völliges Rätsel. Sie war ihm unheimlich. Offenbar hatte sie Angst vor Di Tassi gehabt. Wer hätte das nicht? Aber gleichzeitig schien sie sich ihm weit überlegen zu fühlen. Woher hatte sie diese Ausstrahlung? Oder bildete er sich das nur ein, weil sie ihn so bezauberte?
Ein Schatten schälte sich aus der Dunkelheit am Ende des langen Ganges und nahm allmählich die Gestalt Feustkings an. Wenigstens nicht Hagelganz, dachte Nicolai. Feustking war ihm von den Mitarbeitern des Rates immer noch der angenehmste. Doch bevor er zu ihm aufgeschlossen hatte, öffnete sich die Tür der Bibliothek. Kametsky stand dort im Türrahmen. Nicolai wartete noch, bis Feustking herangekommen war.
»Lizenziat«, sagte der nur und nickte ihm zu. Woran lag es nur, dass diese Menschen so versessen auf Titel waren?
Di Tassi stand mit verschränkten Armen neben dem Kaminfeuer und schaute ihnen entgegen, als sie die Bibliothek betraten.
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